2005, 0:37 Min., Farbe
Idea and : Sonja Engelhardt
Produktion: Kunsthochschule für Medien Köln
Kleine Archäologie des (Nicht)Weinens
1865
Lewis Carrolls Alice in Wonderland schilt sich selbst, sie möge doch sofort aufhören, zu weinen. Doch zu spät. Sie muss durch einen See ihrer eigenen Tränen schwimmen und klagt, “I shall be punished for it now, I suppose, by being drowned in my own tears! That will be a queer thing, to be sure! However, everything is queer to-day.”
1929
In Luis Buñuels Un Chien Andalou schärft ein Mann ein Rasiermesser. Eine Wolke durchschneidet den Mond. Der Mann öffnet einer vor ihm sitzenden Frau das linke Augenlid und durchschneidet den Augapfel. Das Auge weint sich selbst.
ca. 1932
In Man Rays Larmes weinen von perfekt geschminkten Wimpern gerahmte Augen fünf gläserne Tränen.
1966
In Andy Warhols The Chelsea Girls schneidet sich Nico, die mit Eric Emerson und ihrem Sohn Ari Boulogne in der Küche sitzt, fast eine halbe Stunde lang mit höchster Akribie den Pony. Haarschnipsel rieseln auf ihr Gesicht. “You have hair on your face,” kommentiert Emerson. Geweint wird nicht.
1971/2
Dieter Roth weint ein Tränenmeer aus Druckerschwärze in den Anzeiger der Stadt Luzern.
1973/4
In Action Psyché weint Gina Pane gar nicht. Aus ihren aufgeritzten Augenlidern rinnt Blut.
1978
Tuxedomoons Creatures of the Night haben vergessen, wie man weint. Die Augen bleiben trocken.
1987
Die Tränen in Les larmes d’acier von Maire-Jo Lafontaine entpuppen sich als Missverständnis. Tränen aus Stahl sind Bomben, kein Salzwasser, das aus Augen fließt.
2004
Auf Barbara Krugers Blind Eye-Plakat haben die perfekt getuschten Wimpern aus Larmes einen Auftritt. Die Tränen entstammen einer Pipette.
2005
Die Protagonistin in Sonja Engelhardts Crying about the passing of time kommt nicht nur ohne Tränen, sondern
zukünftig auch ohne Wimpern aus.
2007
Ming Wongs Petra von Kant weint schöner als die von Fassbinder.
2007
In Rhythm King and her friends No pictures of the hero werden Helden keine Tränen nachgeweint. Anklebewimpern werden zu Schnauzbärten.
Text – Katrin M. Kämpf
Sonja Engelhardt (*1975 Mönchengladbach) lebt in Berlin.
2010 MFA Studio Art, New York University Steinhardt School, New York City
2006 Diplom Audiovisuelle Medien, Kunsthochschule für Medien Köln
2005 Kunstakademie Düsseldorf
Der virtuelle Ort für künstlerische Arbeiten mit dem bewegten Bild und für experimentelle audiovisuelle Formate der Kunsthochschule für Medien hat einen neuen Namen: MOOZ. Die auch weit über die KHM hinaus bekannte Plattform für Nahblicke auf die künstlerischen Projekte und Produktionen arbeitet nun mit dem Spiegelungsprinzip: MOOZ reflektiert die vielschichtigen Sequenzen und Formate, spiegelt bislang noch nicht Wahrgenommenes oder gerade erst Hergestelltes in die virtuellen Räume zurück. MOOZ vollzieht damit auch einen Perspektivwechsel: Es geht nicht nur um den Blick auf und in die überwiegend kurzen, audiovisuellen Formen und Entdeckungen zum Vlog, Found Footage, Essayfilm, dokumentarische und performative Formate, abstrakte und experimentelle, installative Anordnungen, sondern mit welcher Linse, welchem Fokus, welchem Zoom die Bewegtbildarbeiten zurückblicken auf die ebenso differente und vielstimmige Welt der User*innen.
Das Spiegelungsprinzip von MOOZ ist auch programmatisch zu verstehen: denn jedes Projekt wird von einer anderen Stimme reflektiert, der*die mit den künstlerischen Arbeiten denkt, einen spezifischen Fokus darauf richtet und die Betrachter*innen zu eigenen Projektionen anregt.