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In Erinnerung an Peter Lilienthal (1927–2023)

Peter Lilienthal (Foto: WDR/ARTE/MTC Producciones)

Prof. Dietrich Leder erinnert in seinem Nachruf an den Filmemacher Peter Lilienthal, der am 28. April 2023 im Alter von 95 Jahren gestorben ist. Er gehörte Anfang der 1990er-Jahre zu den Professor*innen der Fächergruppe Film/Fernsehen, die sich am Aufbau der neu gegründeten Kunsthochschule für Medien Köln beteiligten.

Peter Lilienthal, der am 28. April im Alter von 95 Jahren in München starb, hat Anfang der 1960er-Jahre als Filmregisseur zu arbeiten begonnen; bis ins Jahr 2007, als er seinen letzten Film fertigstellte, realisierte er viele Dokumentar- und Spielfilme. Anfang der 1990er-Jahre gehörte er zu den Professorinnen und Professoren, die sich am Aufbau an der KHM beteiligten. Er war 1990 neben Jeanine Meerapfel (hauptberufliche Professur) zusammen mit Peter F. Bringmann und Dominik Graf auf eine geteilte und damit nebenberufliche Professur berufen worden. Zu diesem Zeitpunkt war er in Deutschland durch seine Kinofilme wie „Es herrscht Ruhe im Land“ (1975), „Der Aufstand“ (1980) und „Das Autogramm“ (1984) bekannt geworden; diese und weitere Filme spielen in Lateinamerika und schildern die damaligen Verhältnisse in den dortigen diktatorischen Systemen.

Seine Nähe zu diesem Kontinent ist eine Folge einer Fluchtgeschichte; Lilienthals Mutter floh mit ihm 1939 aus dem nationalsozialistischen Deutschland, in dem sie und ihr Sohn als Juden vom Tod bedroht waren. 1955 kehrte Lilienthal (und wenig später seine Mutter) aus dem Exil in Uruguay, wo er eine Banklehre absolviert hatte, nach Deutschland zurück. In Berlin studierte er, der zuvor ein Wirtschaftsstudium in Paris abgebrochen hatte, an der Hochschule der Künste (heute: Universität der Künste) freie Kunst. Hier realisierte er seinen ersten Film: „Im Handumdrehen verdient“. Dieser Dokumentarfilm, in dem er einen Leierkastenmann porträtiert, der zugleich als Filmvorführer arbeitet, trug ihm die Einladung ein, beim damaligen Südwestfunk in Baden-Baden als Regieassistent zu arbeiten. Wenig später wurde er als Hausregisseur engagiert, der beispielsweise Schauspielinszenierungen bekannter Theater-Regisseure für die Live-Übertragung oder später für die Band-Aufzeichnung mit mehreren Kameras einrichtete.

Bald konnte er eigene Filme realisieren, oft nach Vorlagen des absurden Theaters, also von Autoren wie Fernando Arrabal oder Slawomir Mrozek. 1965 kehrte er dem Sender und der badischen Provinz den Rücken und ging nach Berlin zurück. Als nun freier Regisseur arbeitete er vor allem für den Sender Freies Berlin.

So entstand 1966 der Spielfilm „Der Beginn“, dessen Drehbuch vom Schriftsteller Günter Herburger stammte: Ein junger Mann, der sich nicht entschließen kann, die Lehrstelle anzunehmen, die ihm der Vater in einem Großbetrieb vermittelt hat, stromert durch West-Berlin. Er trifft sich mit Freunden, besucht eine Party, lernt eine Sängerin aus Jugoslawien –Dunja Rajter – kennen, deren Leben aber so gar nichts vom Glamour der Medien und des Pop-Business hat, sondern eher von Kleinganoven bestimmt zu sein scheint. Er träumt davon, nach Spanien zu gehen und dort in einem Hotel zu arbeiten. Aber was er will, weiß er auch am Ende des Films nicht. Der Film lebt von der dokumentarischen Beobachtung einer in die großstädtische Wirklichkeit transponierten fiktiven Geschichte. Manche Personen spielen sich selbst, was den Realismus nochmals erhöht. Ein rauer, unsentimentaler Film, der von einer gewissen Melancholie umschattet ist.

In anderen Filmen dieser Zeit durchwirkt Lilienthal den in „Der Beginn“ entwickelten Realismus mit Genre-Elemente. In „Tramp“ (1968) wird ein Mann zufällig in einen Kriminalfall verwickelt, aus dem er nicht mehr hinausfindet. Gedreht in Südeuropa, registriert der Film vor allem Oberflächen, seien es die der kargen Landschaft oder die der Gesichter der Menschen, die dort leben. In „Horror“ (1969) geht es um eine Art Psychose, die einen Jungen befällt, der glaubt, seinen Vater bei einem Brand nicht geholfen zu haben, und seitdem sein Sehvermögen eingebüßt hat. Der Film sucht in der Bildgestaltung eine Entsprechung für den Sehverlust des Jungen und findet milchige, etwas unscharfe Einstellungen, über die ein Schleier gelegt scheint.

Seine Fernsehfilme jener Jahre interessieren sich, wie er selbst 1968 in einem Gespräch sagte, für „Menschen, die nicht alles erklären können. Wir sind umgeben von einer Welt, die ständig alles erklärt, wo jeder immer so gut Bescheid weiß.“ Seine Protagonisten wissen nicht alles, sie versuchen Dinge, liegen mal richtig, öfter falsch mit ihren Einschätzungen und Verhaltensweisen. Ihnen ist eine gewisse Vergeblichkeit des Handelns einbeschrieben. So ist Lilienthals Fernsehfilmen der 1960er-Jahre eine Radikalität eigen, die seit vielen Jahren kaum noch möglich scheint, seitdem die fiktionalen Werke der Fernsehsender auf einen mittleren Realismus und auf permanenten Erklärmodus normiert wurden. Man könnte es auch anders sagen: Lilienthal testete aus, was im Fernsehen dieser Zeit möglich war.

Mit „Malatesta“ (1970) begann der Regisseur vor allem für das Kino zu arbeiten; allerdings waren an seinen Spielfilmen meist auch Fernsehredaktionen des ZDF oder des WDR und in diesem Fall der SFB beteiligt. Die historische Titelfigur seines Kinoerstlings ist ein aus Italien stammender, zur Filmzeit von 1920 in London lebender Anarchisten, der von jungen Aktivisten in ihre Debatten um Aktionen und Gewalt hineingezogen wird. Malatesta wird von Eddie Constantine gespielt, der zur damaligen Zeit wegen seiner Lemmy-Caution-Filme, aber auch dank Godards „Alphaville“ ein Kinostar war. Lilienthal stellt die Zeit, in der die Handlung um die Frage politischer Gewalt spielt, dar, indem er den Look seiner monochromatischen Filmbilder den historischen Fotos, die er einschneidet, angleicht. Der Film behauptet nicht, Geschichte visuell und erzählerisch zu rekonstruieren. Er gleicht eher einem Gedächtnisstrom visueller Details und Fragmente. Dass Teile des Films asynchron sind, verstärkt den Eindruck des Unwirklichen, in der Malatesta wie ein Geist aus der Vergangenheit wirkt.

Der vor kurzem verstorbene Filmkritiker Wilhelm Roth führt die Synchronmängel in einem kurzen Text der Zeitschrift „Filmkritik“ 1970 auf handwerkliches Ungeschick zurück. „Der Film wurde auf Ampex [also ein Videoformat] überspielt, ein Ampexschnitt ist, im Gegensatz zum Filmschnitt eine komplizierte Sache. So sieht man genau, wo SFB-Intendant Barsig sich entrüstet hat, das Bild kippt einmal durch.“  

Der Malatesta, so ihn der Film sieht, ist ein Geist des Widerspruchs und der Skepsis. Norbert Grob hat ihn deshalb zur „Lilienthal-Figur per excellence“ erklärt. Ähnliches gilt auch für den Geschäftsmann, den Joe Pesci in „Dear Mr. Wonderful“ (1983) spielt, der mehr an seinen Gesangsauftritten in der eigenen Bar interessiert ist, als an den Geschäften, was ihm am Ende den Verlust seiner beruflichen Existenz einträgt. Der in New York spielende Film fängt die dortige Stadtlandschaft wie nebenbei ein, so erzählt er von Immobilienspekulationen, die dort walten und vor allem arme Menschen um den Wohnraum bringen. In seinem Blick auf die Stadt (Kamera: Michael Ballhaus) ähnelt er Filmen des New Hollywood wie etwa Barbara Lodens „Wanda“ oder den frühen Filmen von Jim Jarmusch.

Lilienthal drehte in den USA ebenso selbstverständlich wie etwa auch in Lateinamerika oder Portugal, in dem ein lateinamerikanisches Städtchen in „Das Autogramm“ nachgestellt wurde. Unter den deutschen Spielfilmregisseuren, die mit ihm Ende der 1960er-Jahre für das Kino zu arbeiten begannen, war er der Internationalist. So brachte er den deutschen Zuschauerinnen und Zuschauern in den bereits erwähnten Filmen die Verhältnisse der lateinamerikanischen Militärdiktaturen nahe, die etwa das chilenische Experiment eines Sozialismus unter Allende mit Gewalt beendet hatten.

Mit der deutschen Geschichte beschäftigte sich Lilienthal nur in einem seiner Kinofilme: In„David" erzählt er auf der Grundlage eines autobiografischen Berichts, den Ezra Ben Gershom unter dem Namen Joel König veröffentlicht hatte, von der Vernichtung der deutschen Juden durch die Nazis. Die jugendliche Titelfigur entkommt dem NS-Terror mit einem falschen Pass und einem vorgetäuschten Dienstauftrag ins Ausland. Seine Familie aber wird ermordet.

Wer den Film, der auf der Berlinale 1979 uraufgeführt und mit dem „Goldenen Bären" ausgezeichnet wurde, kennt, wird viele Szenen nicht vergessen, beispielsweise den Moment, als jüdische Mädchen und Jungen, die von Polizisten zur Deportation nach Polen weggeführt werden, sich vor Betreten der Bahnhofshalle in einer Geste der Solidarität die Hände auf die Schultern legen.

In einem Gespräch, das Egon Netenjakob 2001 mit Lilienthal führte, berichtete der Regisseur an einem kleinen Beispiel von der diskriminierenden Erfahrung mit dem staatlich organisierten, aber von weiten Teilen der Gesellschaft getragenen Antisemitismus. Eines Tages hätte an der Tür eines Eis-Geschäfts, in dem die Familie Stammkunde war, ein Schild gehangen. Er berichtet: „Zum ersten Mal las ich das Schild »Für Juden...« - ich glaube, es stand da: »... und Hunde – Eintritt verboten!«“ Er fragte seiner Mutter, wo sie zukünftig Eis essen sollten? „Sie antwortete: »Ab jetzt machen Juden ihr Eis zu Hause.«“ Lilienthal beendet die kurze Erzählung mit dem Satz: „Aha. So hatte ich das Bewusstsein, wenn man jüdisch ist, macht man das Eis zu Hause.“

In einem Drehbuch, dem das Fernsehen seine Zustimmung versagte, berichtete Lilienthal sehr zurückhaltend und doch pointiert von seinen Erfahrungen, die er nach seiner Rückkehr Ende der 1950er-Jahre als Jude sammelte. Er hatte als Studentenjob die Rolle eines Weihnachtsmannes angenommen, der in Familien die Kinder zu beschenken, aber auch zu tadeln und zu loben hatte. Als er sich vorab den Familien vorstellte, hätte er erklärt, dass er als „jüdischer Weihnachtsmann“ den Kindern nicht mit der Rute drohen werde. Wie die Familien darauf reagierten, hält das Drehbuch, das Michael Töteberg in einem Buch über Lilienthal auszugsweise vorstellt, in mal komischen, mal absurde Szenen fest. Der Film wäre – sagte Lilienthal im Gespräch mit Netenjakob – „sehr weit weg von den kritischen Betrachtungen des lieben Eberhard Fechner oder des Herrn Monk“ gewesen, deren Filme ihm immer „sehr deutsch“ vorgekommen seien.

Peter Lilienthal war ein aus Deutschland stammender Weltbürger. Ein Freund der Literatur und der leisen Komik, der die Widersprüche in den Menschen liebte und der in seinen Filmen auf die kleinsten Gesten und Gebärden auch der Sympathie und der Solidarität achtete. Er war ein Einzelgänger, der sich in Institutionen nicht sonderlich wohlfühlte. So beendete er in den 1960er-Jahren seine Lehrtätigkeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) nach relativ kurzer Zeit. Auch aus der KHM schied er bereits nach einem Jahr wieder aus, vielleicht, weil er gegen jede Form von Struktur, die es in einer Hochschule dann doch bedarf, rebellierte. Aber er kehrte immer wieder als Gast an die KHM zurück. Zuletzt 2011 im Rahmen eines Seminars von Sabine Rollberg, die einen damals aktuellen Film über ihn vorstellte: „Peter Lilienthal – mein Leben“ von Maria Teresa Curzio (2011, 52 Min., MTC-Producciones in Zusammenarbeit mit ARTE und WDR) (siehe hier).


Sein entschiedenes Plädoyer für die nomadische Existenz des Künstlers bedeutete nicht, dass er nicht auch Bündnisse einging, so war er an der Gründung des Filmverlags der Autoren beteiligt und etablierte in der Akademie der Künste in Berlin die Sektion Film- und Medienkunst. Dort stieg er nach elf Jahren aus, als ihm die Politik der Akademie nach der Wiedervereinigung nach Restauration aussah und sie sich – seiner Ansicht nach – zu sehr selbst feierte. Er hatte, berichtete er auf einer Veranstaltung der Zeitschrift „Revolver“, statt einer großen Feier zum 300-jährigen Bestehen der Akademie 1996 eine Veranstaltung vorgeschlagen, die jene porträtiert, die von dieser Akademie im Lauf der Geschichte nicht aufgenommen worden seien. Eine Idee, in der sich das filmische Werk von Peter Lilienthal gleichsam spiegelt.  


Dietrich Leder, Professor an der Kunsthochschule für Medien Köln von 1994 bis 2022



Der Nachruf von Dietrich Leder ist eine erweiterte Fassung des Textes "Ein Weltbürger – Zum Tod von Peter Lilienthal", der am 3. Mai 2023 im Filmdienst erschienen isthier.

Literaturhinweise:

Peter Lilienthal. Von Norbert Grob. In: Thomas Koebner (Hrsg.), Filmregisseure. Biografien, Werkbeschreibungen, Filmographien. Mit 104 Abbildungen. Reclam Verlag, Stuttgart 1999. S. 414-415.

Welche Farbe hat das Grau? Begegnung mit Peter Lilienthal. Von Werner Kließ. In: Film, November 1968. S. 18-22.

Peter Lilienthal, Blick ohne Augen. Auszug aus der Dokumentation einer Podiumsdiskussion an der Universität Bochum. In: Filmkritik, Nr. 5/1968. S. 388-389.

Peter Lilienthal, Warum Europa? Protokoll eines Gesprächs, das am 5. Oktober 2000 stattfand. In: Revolver, Heft 7. Online abrufbar.

Peter Lilienthal. Von Egon Netenjakob. In: TV-Filmlexikon. Regisseure, Autoren, Dramaturgen. 1952-1992. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994. S. 244-246.

In paradiesischen Zeiten. Peter Lilienthal. In: Es geht auch anders. Gespräche über Leben, Film und Fernsehen. 25 Porträts von Regisseurinnen und Regisseuren, Redakteurinnen und Redakteuren, Produzenten und einer Cutterin. Von Egon Netenjakob. Stiftung Deutsche Kinemathek, Verlag Bertz, Berlin 2006. S. 99-120.

Malatesta. Von Wilhelm Roth. In: Filmkritik, Nr. 7/70. S. 390.

Befragung eines Nomaden. Peter Lilienthal. Hrsg. von Michael Töteberg. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2002.

Redaktion — Ute Dilger
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