Bernhard Herrmann - Der Komponist

Von allen Filmmusiken Bernard Herrmanns (zu denen auch Psycho und Der unsichtbare Dritte gehören) ist dies die, die einen am meisten in ihren Bann zieht. Sie nimmt den gleichen Rang ein wie Vertigo unter den Filmen Hitchcocks.

Die Musik ist zutiefst rätselhaft - wie sie mit den Schatten der Vergangenheit einhergeht, die im Film immer wiederkehren.Wenn sich das schwindelerregende Leitthema vor einem öffnet, kann man förmlich spüren, wie man hineingezogen wird.

Das größte Kompliment, das man diesem Soundtrack machen kann ist vielleicht, daß er so beeindruckend und unvergeßlich ist, wie die Bilder, zu denen er komponiert wurde. Und auch als eigenständiges Werk bestehen kann.

Bernhard Herrmann (1911-1975) hat für über 50 Filme die Fillmusik geschrieben. Angefangen mit der Vertonung von Orson Welles "Citizen Kane" (1941) über Cape Fear (1962), Truffauts Fahrenheit 451 (1966) bis hin zu Martin Scorseses Taxi Driver (1976) - sein letzter Soundtrack. Am bekanntesten ist seine langjährige Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock. In acht Filmen hat Herrmann eine musikalische Entsprechung zu Hitchcocks Bildern gefunden, die auch für sich, losgelöst von Film, ihre Berechtigung hat.

Herrmann schrieb keine konventionellen Stücke. Seine Musik ist eher atmosphärisch, denn melodisch. Sie besteht aus Fragmenten, Motiven und deren scheinbar endlose Wiederholung und Variation. So scheint es auch das seine Musik nicht über den Bildern liegt und sie kommentiert, sondern vielmehr transparent mit dem Bild verwoben ist. Sie kann dabei romantisch sein, aber auch zugleich sehr hysterisch, panisch und angsterfüllt wirken.

Im Gegensatz zu vielen anderen Regisseuren war sich Hitchcock der Funktion der Musik bewusst, einen Film in seiner Spannung zu verstärken, und Herrmann lieferte dazu die musikalische Stimmung. Er war so sehr im kreativen Prozess mit einbezogen, das er oft den Set besuchte und die Dreharbeiten verfolgte, um dabei schon beim Dreh seine Vorstellungen zu konkretisieren.

Schon in der Eingangssequenz von Vertigo ist Herrmanns Score ein bestimmendes, narratives Moment. Der Detektiv Scottie Ferguson (James Stewart), verfolgt einen Verdächtigen über die Dächer von San Francisco, dabei stürzt er und kann sich nur noch mit Mühe vor einem Fall in die Tiefe halten. Ein zuhilfekommender Polizist kommt dabei ums Leben. Scotties Höhenangst wird hier offenbar. Kaum ein Wort wird geredet, doch Herrmanns Musik mit ihren schwebenden Steichern, der entrückten Harfe und den durchdringenden Bläsern verstärkt eindrucksvoll die gefährliche Situation, die sich dem Zuschauer hier bietet.

Die anschließende Szene in Midges (Barbara Bel Geddes) Appartement wird mit zarten Mozart-Klängen von einem Plattenspieler eingeleitet. Ein starker Bruch zu dem aufwühlenden Beginn. Es ist gleichfalls als eine Charakterisierung Midges, Scotties ehehmaliger Freundin, zu verstehen, die sich zwar warmherzig um Scottie kümmert, ihn aber nicht wirklich berühren kann und so wie eine Schwester wirkt. Das Verhältnis Scotties zu Midge offenbart sich in seinem Verlangen die Musik auszuschalten. Er stammelt: "Diese Musik, findest Du nicht, daß sie ..." Scottie teilt nicht ihre unverfängliche, oberflächliche Art, die sich in der Musik äussert.

Midge wird auch in einer weiteren Szene mit Inzidenzmusik näher beschrieben. Nämlich als sie Scottie, nach dem Selbstmord Madeleines, im Krankenhaus besucht. Dort bringt sie ihrem melancholischen und introvertierten Freund eine Auswahl von Mozart-Kompositionen mit, die sie auf dem Plattenspieler anspielt. Gleichfalls mit musktherapeutischen Zweck, soll sie "die Spinnenweben der Vergangenheit" wegwischen. Doch Scottie bleibt absolut unbeeindruckt, seine Melancholie kann nur durch sein eigenes gequältes musikalisches Thema kuriert werden.

Der Besuch bei Gavin Elster (Tom Helmore), ein alter Studienfreund, der ihn unterrichtet über das seltsame Verhalten seiner Frau Madeleine (Kim Novak), ist komplett ohne Musik unterlegt. Der musikalische Klangteppich wird erst dann wieder ausgebreitet als Scottie Madeleine das erste Mal begegnet, nämlich im Restaurant Ernie`s.

Dieses schwelgerische, habanera-artige Leitmotiv besteht aus zwei Rhythmen, einen steigenden und fallenden Rhythmus, der Geheimnis hervorruft und eine wiederholende Melodie für Harfe. Madeleine wird als eine mysteriös-umwobene Person in die Erzählung eingeführt. Sie steht für Romantik, Melancholie und Träumerei. Scottie ist gleich gefangen, sein Thema ist dementsprechend schwermütig und trance-artig, sein obsessives Verlangen wird hier schon angedeutet. Dieses Motiv findet seine volle Blüte in der ausgedehnten Szene, in der Scottie seine romantische Illusion über Madeleine und Judy schließlich verwirklicht sieht.

Die nun folgenden Beschattung Madeleines durch Scottie ist über die gesamte Szene hinweg mit Musik unterlegt, die mal eine lauernde, erwartende Spannnung erzeugt, und auch romantische Bezüge herstellt, die das Verlangen Scotties zu Madeleine näher beschreibt. Variiert wird die musikalische Untermalung auf vielfältigste Art und Weise. So setzt die Orchestermusik kurzzeitig aus und wird durch Orgelmusik aufgegriffen, als Scottie Madeleine durch das Kirchenschiff folgt. Musikalisch wird ein Schlusspunkt gesetzt, indem das Schlagen der Kirchenglocke in die Komposition mit eingebunden ist.

Je mehr Scottie von Madeleines Verhalten in Erfahrung bringt, desto bedrohlicher und mysteriöser wird die musikalische Atmosphäre verdichtet. Als er Madeleine bzw. Carlotta am McKittrick Hotel aus dem Auge verliert, ist auch das Leitmotiv nicht mehr zu hören. Der Besuch bei Midge, deren gemeinsamer Ausflug zum Argosy Buchladen, wie auch als Scottie Gavin Elster seine Beobachtungen schildert sind nur deren Dialoge zu hören.

Erst wenn Ferguson seine Ermittlungen wieder aufnimmt wird wieder die sphärische Klangkulisse aufgebaut. Ein stetes anschwellen und abklingen, erzeugt eine lauernde, erwartende Stimmung. An der Golden Gate Bridge angelangt, stürzt sich Madeleine in die Fluten, ein Moment in dem die Instrumente sich fast schmerzlich überschlagen, laut, schallend und unheilsgewahr. Madeleine wird somit als zwiespältig, geheimnisvoll und romantisch zugleich charakterisiert. Scotties Verlangen zeigt musikalischen Ausdruck darin, das sein Leitmotiv drängend, forschend, suchend erscheint.

Scotties Sucht, die verlorengeglaubte Madeleine in Judy wiederzufinden, treibt ihn in der zweiten Hälfte des Fimes an. Er irrt scheinbar orientierungslos durch San Francisco und sucht all die Orte wieder auf, die ihn mit Madeleine verbinden. So besucht er Ernie's und erkennt in jeder Frau Züge von Madeleine. Seine imaginäre Vorstellung überlagert die Realität, er erscheint eigentümlich wirklichkeitsfern, in Trance schwebend.

In Scotties Alptraum erscheint nun ein Thema der Freigabe und des Todes, dieses Motiv wird orchestral opulent ausgestaltet, mit dröhnenden Klängen, abbrechenden Tönen und hysterischen Bläsern. Auch Castagnetten finden hier Verwendung und stellen somit einen Bezug zu Carlottas spanischer Herkunft her und dem Ursprung der Mission Dolores. Er scheint wie besessen zu sein, seine Gedanken kreisen sich noch immer nur um Madeleine und den schmerzhaften Verlust den er spürt.

Schließlich trifft er Judy Barton (Kim Novak), die ihn, natürlich, an Madeleine erinnert. Mit ihr versucht er wieder ein gesellschaftliches Leben zu führen. Musikalisch begleitet wird dieses Finden und Wiederentdecken von wirbelartigen Streichereinsätzen, die immer wieder seinen indifferenten, von Euphorie und Melancholie, geprägten Gemütszustand einfangen. Der Höhepunkt seiner Anstrengungen stellt die perfekte Transformation von Judy in Madeleine dar, die Erschaffung des perfekten Ebenbildes. Eine Szene in der sich sein ganzes Verlangen entlädt, aber trotzdem unheilsschwer von der Vergangenheit überschattet wird.