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Auch hier kommt die wichtigste Initiative zum Erhalt von historischen Web- und FTP-Sites von einem Hacker: dem amerikanischen Internet-Unternehmer Brewster Kahle, der durch die von ihm entwickelte WAIS-Technik reich geworden ist und nun ein Archiv des Internet anlegen will. Automatisierte Robot-Programme sammeln Websites und leiten sie an sein "Internet Archive" weiter, wo sie zurzeit auf Band gespeichert werden. Ein Teil der Sammlung ist im Washingtoner Nationalmuseum Smithsonian einzusehen. Aber auch hier ist die Frage, ob die Daten, die dort aufbewahrt werden, in absehbarer Zeit überhaupt noch zugänglich sein werden - so schnell ändern sich die Hardware und die Netzprotokolle. Überhaupt kann das Programm im Moment nur HTML-Daten sammeln. Websites, die mit Datenbanken verknüpft sind oder auf andere Serversoftware angewiesen sind, erreichen seine Webrobots nicht. Wie die Website von "Amazon" funktioniert oder wie man bei "Hotmail" E-Mails abrufen konnte, wird das "Internet Archive" nicht demonstrieren können. Und wenn Kahle einmal das Geld für das gewaltige Projekt ausgehen sollte (auf seinen Servern liegen zurzeit 35 Terrabyte an Daten), kann man nur hoffen, dass eine staatliche Institution einspringt, um die virtuelle Sammlung zu retten. / Dejavu-Browser-Emulator / Internet Archive /.. Von Karthagos Fall zeugen heute Ruinen. Welche Überreste aber werden von der digitalen Informationsgesellschaft der Gegenwart bleiben? Nur die Notizen der Zeitgenossen? Die Informationsgesellschaft hat die Bewahrung ihres Andenkens dem ehrenamtlichen Engagement von Hackern und Computerfreaks überlassen. Die könnten freilich schon morgen eine Freundin finden, und dann, weil sie Wichtigeres zu tun haben, ihre Websites mit Archiven alter Software oder historischen Webpages einfach löschen. Dann sind sie weg, und vielleicht wird niemand sie jemals wieder zu sehen bekommen. Wenn man den Wert einer Kultur danach bemisst, wie bewusst sie mit den Dokumenten ihrer eigenen Entwicklung umgeht, leben wir heute in der barbarischsten Zeit seit dem frühen Mittelalter. Durch die Ruinen von Karthago wird man noch streunen können, wenn die viel beschworene "Internetrevolution" lange vorbei und vergessen ist. Wer etwas über deren Geschichte erfahren will, wird vielleicht auf Dokumente aus zweiter Hand angewiesen sein: auf Zeitungsartikel und Bücher, in denen über das Phänomen berichtet worden ist. Ironischerweise sieht es danach aus, als würden die Informationen, die in einem schon totgesagten Medium festgehalten wurden - auf Papier gedruckte Worte - eine längere Lebensdauer haben als die immateriellen Bits und Bytes, die digitale Rechner verarbeiten. So verschwindet ein wichtiger Bereich unserer Kultur, als hätte ein wütender Gott ihn auf das Mülleimer-Symbol des Grossen Computers der Geschichte gezogen. Tilman Baumgärtel hat diesen Artikel exklusiv für receiver verfasst. |