Vom Aal - stereo reading for single person audience

We investigated all the books onboard the MS Carolina and scanned them for texts dealing with water, fish, the Rhein, extreem travel conditions (in a spaceship or a whale stomach). Finally, we chose a text almost a thousand years old for our first reading performance.

 

real audio recording
by
Jens Muencho

 

Vom Aal

Wie entsteht ein Aal? Aber in der letzten Zeit, wie sie jetzt ist, entsteht der Aal auf eine andere Weise. Doch wenn der Winter kommt, trennt sich die Wasserschlange, die das Weibchen ist, vom Männchen, und sie reibt sich entweder auf Steinen oder auf Sand und so verliert sie ihre Haut, und so ruht sie den Winter über in einer Grube. Aber wenn dann die Sommerzeit bevorsteht, sucht sie einen Stein auf und scnaubt darüber ihren Hauch aus ihrem Maul und dann speit sie auch auf diesen Stein gewisse Körner aus ihrem Maul, nämlich in der Größe von Bohnen. Und sie hat grosses Verlangen und Eifer zu diesem Werk, weil sie dann rein ist, weil sie ihre alte Haut, in der das Gift war, schon verloren hat. Und der Aal, der das Männchen ist, und der das sieht, eilt sogleich dahin und jene Schlange flieht ihn und entfernt sich von jenen Körnern, die sie ausgespien hat. Und sogleich ergießt der Aal über diese Körner aus seinem Maul (etwas) wie Milch, das heißt er kaut, und er bedeckt (die Körner) mit seinem Schwanz und dreht sich darüber, indem er sich ausbreitet. Wenn das die vorgenannte Wasserschlange sieht, wird sie unwillig, nähert sich und stößt unter dem Schwanz des Aals viel Schnauben aus, und so liegen dort beide (zusammen): der Aal mit seinem Schwanz jene Körner bedeckend und die Schlange unter dem Schwanz schnaubend bis (die Jungen) die lebensspendende Luft empfangen. Aber nachdem sie zu leben begonnen haben und der Aal das spürt, fliehen sogleich sowohl er als auch die Schlange vor Schrecken, weil sie über ihre Natur hinausgegangen sind. Und so entstehen die Aale, und es werden viele aus einem vorgenannten Korn. Wenn sie daher zu sprießen begonnen haben, steigt ihre Zahl schnell an.
Der Aal aber stammt mehr von der warmen Luft als von der kalten, und er liebt die Nacht und hat die Natur gewisser Würmer, die gerne in kleinen Höhlen (weilen), die auch nicht unrein sind. Und er hat auch die Natur der Fische und sucht nicht viel unreine Nahrung. Aber dennoch ist sein Fleisch etwas unrein, und es taugt beim gesunden Menschen nicht zum Essen, wie das Fleisch der Schweine, aber doch schadet es gesunden Menschen nicht viel. Die Kranken aber schüttelt es in allen Fiebern und schlechten Säften und in all ihren Krankheiten, und die, die es essen, macht es bitter im Geist und schlau und mißtrauisch. Aber die Galle (des Aals) ist fett und wer gegen Verdunkelung (der Augen) damit seine Augen salbte, der würde sie für kurze Zeit klar machen, aber nachher würden sie umso mehr erkranken. wenn aber einen Menschen die Läuse innerlich schädigen und nicht herausgehen, dann koche (dieser) Galle des Aals, und dreimal weniger scharfen Essig und ebensoviel Honig wie diese zwei stark in einer Schüssel. Dann (nehme er) Ingwer und zweimal soviel langen Pfeffer und ebensoviel Basilienkraut, dazu Elfenbein zum dritten Teil des Basilienkrauts und vom Geierschnabel zum ditten Teil des Elfenbeins. Und dieses Pulver schütte er in den vorgenannten Essig, und dann lasse er es wiederum gleichzeitig sieden. Wenn er das gemacht hat, dann gebe er es in ein Säckchen und gieße Wein hinein, damit dieser wie ein reiner Trank dadurch gehe. Und er fange das in ein neues Tongefäß auf. Und der Mensch, den die Läuse innerlich schädigen, der trinke diesen Trank täglich nüchtern, und zur Nacht werden die Läuse schwach und sterben, und das Fett in ihnen wird erneuert werden.

 

Hildegard von Bingen

images Yvonne Zijp