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SELMA GÜLTOPRAK - and their eyes became sharper

Düsseldorf Cologne Open Galleries

03.09. - 15.10.2021
Martinetz, Moltkestraße 81
Köln

Fuck airbnb oder: Die Ausstellung als Camp
Versiffte Matratzen. Eine Lederjacke des Modelabels Homeless. Plakate von Protesten gegen die Wohnungsnot in L.A. im Corona-Jahr 2020. Die Fotografie eines urbanen Zeltlagers. Selma Gültoprak verwendet in ihren installativen Arbeiten Alltagsmaterial – Objekte, Bilder, Schriftstücke, Sounds, die ihr bei ihren ausgedehnten Recherchen in ihrer Heimatstadt Köln oder auf Reisen auffallen. Fundstücke, die sie bearbeitet oder als Readymades in ihren Installationen in neue Zusammenhänge bringt. Andererseits, und das charakterisiert ihr Werk im Kern, ist ihr eigentliches Material der soziale Alltag: Das persönliche und gesellschaftliche Miteinander und Gegeneinander zwischen Macht und Ohnmacht, Resignation und Selbstermächtigung. Dabei ist ihre künstlerische Haltung die der Beobachterin, die sich genauso für individuelle Erfahrungen interessiert wie für die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die Lebensentwürfe reagieren. Nicht zufällig ist der öffentliche Raum – als Spannungsfeld, in dem das Private und das Öffentliche aufeinander treffen, sichtbar und ständig neu verhandelt werden – der bevorzugte Ort ihrer Interventionen. Indem diese aktiv in die Lebensrealität eingreifen, sprechen sie von der Veränderbarkeit der Verhältnisse. In dem Sinne enthalten sie ein utopisches Moment, gebrochen durch ironischen Humor.

Auch die Objekte in Selma Gültopraks zweiter Einzelausstellung in der Galerie Martinetz, and their eyes became sharper, verweisen noch auf ihren ursprünglichen Kontext. Er könnte der Lebenswelt der Besucher*innen einer Kunstgalerie wohl nicht ferner sein: Obdachlosigkeit. Selma Gültoprak beschäftigt sich seit Längerem mit der in den USA wie in Europa zunehmenden und zunehmend sichtbar werdenden Wohnungsnot. Sie hat in den USA und Köln mit Betroffenen, Aktivisten und Forschern Interviews geführt, recherchiert und hingesehen. Dabei hat sie nicht „Opfer“ getroffen, sondern Menschen, die mit geschärftem Blick auf die Verhältnisse schauen, sich organisieren, ihre eigenen Überlebensstrategien entwickeln. Augenhöhe ist eine Voraussetzung von Selma Gültopraks Arbeit. Die künstlerische Herausforderung aber liegt in der ästhetischen Formfindung.

Wer die Galerieräume betritt, bewegt sich buchstäblich auf dem Boden der Tatsachen. Wie Intarsien mit Gussharz in den Boden eingelassen sind Protestschilder, die bei Demos gegen Wohnungsnot zum Einsatz kamen. Nach der Ausstellung werden sie sich, mit Farbe überstrichen, als „lost work“ dauerhaft in das Palimpsest des Galerieboden einschreiben. Doch jetzt liegt auf diesem Boden ein verstörendes Objekt mit der Aufschrift „Fuck Airbnb“. Es besteht aus alten Matratzen, ausgeweidet und als Patchwork zusammengefügt zu einem großen Herz in Camouflageoptik. Überhaupt erinnert manches an ein Camp. Immerhin gibt es Hausnummern, die allerdings keinen Wohnraum markieren, sondern als binäres System von Einsen und Nullen nur noch auf sich selbst und ins Leere weisen. Für einen Soundtrack ist auch gesorgt: Eine Collage aus Interviewfragmenten mit Betroffenen, Organisationen, Experten wird nebenbei zum Hinweis auf einen von der Szene in L.A. produzierten Podcasts.

Zu den Protagonisten dieser Ausstellung gehört auch der „Crenshaw Cowboy“, der seit Jahren sein Basislager an derselben Straßenkreuzung hat und täglich neue Schilder mit Textzeilen malt. Ein verdächtig niedlich verziertes Imitat zitiert ihn: My mission was to educate you about your creative mind. Das sitzt. Ebenso wie die von Selma Gültoprak zur Ausstellung produzierte Edition feinster Baumwollsocken mit der Inschrift White Gold – so nennen Wohnungslose einen begehrten Alltagsgegenstand: frische Socken. Beim Kauf einer Edition geht ein zweites Paar an eine Unhoused Person. Können wir uns freikaufen? Fühlt sich jedenfalls irgendwie gut an. Und zu einfach. Während der Pandemie wuchsen in Venice Beach wilde Camps gleich neben den Joggingstrecken der schönen Reichen. In Köln entstanden neue Lager unter den Rheinbrücken, im Waldgebiet am Fühlinger See, in den Nischen der Lockdown-verwaisten Hohe Straße. In Berlin demonstrieren Tausende gegen Wohnungsnot. Man kann es sehen. and their eyes became sharper.

Melanie Weidemüller


Opening
Friday, 03.09.2021, 11am – 10pm
Saturday, 04.09.2021, 11am – 8pm
Sunday, 05.09.2021, 11am – 6pm

Artist talk
Selma Gültoprak with Melanie Weidemüller
Wednesday, 08.09.2021, 7.30pm

Exhibition until 15.10.2021

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